Liebe Schüler,
Mein Name ist Jean Prod’hom, ich wohne in Le Riau Graubon, einem Weiler in der Nähe von Lausanne, in einer ländlichen Gegend. Wie Sie festellen werden, habe ich nur in der Schule Deutsch gelernt, es ist summarisch… was ich heute bedaure.
Die Schule ist mir jedoch nicht fremd, denn nach einer klassischen Schullaufbahn und einem Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Lausanne, habe ich etwas mehr als 30 Jahre lang Französisch für fünfzehn – und sechszen-jährige Schüler unterrichtet.
Ich war, so glaube ich, ein gewissenhafter, aber rebellischer Lehrer. Ich hatte die geheime und hartnäckige Hoffnung, die Waadtländer Schule zu verändern, sie lebendiger und aktiver zu machen. Und so, von einem zum anderen, die Welt zu verändern. Mit einem sehr sehr, sehr fragwürdigen Erfolg.
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Das wurde mir, im Jahre 2008, im Alter von 53 Jahren, bewusst.
Damals ahnte ich, dass ich, wenn ich auf diesem Weg beharrte, von hypothetischen, tiefgreifenden sozialen Veränderungen träumte und mich ausschließlich der Schule und den Schulkindern widmete, nicht nur Gefahr lief, in Missgunst zu verfallen, sondern auch etwas Wichtiges zu verpassen: mein eigenes Leben.
Als Antwort auf diese sehr reale Gefahr habe ich begonnen, täglich in einem Blog zu schreiben, um mir einen Raum für Ausdruck, Reflexion und Entdeckung zu schaffen.
Ich muss betonen, dass ich zu keinem Zeitpunkt meines Lebens das Lesen und das Schreiben verehrt habe, ich habe sie nie als Zweck betrachtet, sondern als Zugang zum Leben, das uns immer wieder entgleitet. Ich schreibe also heute nicht aus Berufung. Und wenn das Lesen und das Schreiben für mich wesentlich geworden sind, dann sind sie es wie ein Stock für einen hinkenden Menschen.
Das Schreiben ermöglichte es mir, dem Arbeitsleben, dem ich den Großteil meiner Zeit widmete, zu entfliehen, um zu schauen und zu atmen, in die Fülle meines Lebens eine kleine Leere zu graben.
Ich lernte damals, auf diesem Weg, dass das Leben nicht nur ein harter Kampf gegen das Vergehen der Zeit und den Tod ist, sondern auch etwas Einzigartiges und Unbekanntes, von dem ich fast nichts wusste.
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Zufällig schlug mir ein Verleger, der die täglichen Texte las, die ich in meinem Blog veröffentlichte, und insbesondere die Texte, die sich auf die Geschirrstücke bezogen, die ich seit 30 Jahren am Wasser sammelte, vor, ein Buch über diese Reste des Weltgeschirrs zu schreiben. Wird es Tessons sein, das 2015 erscheint.
Zwei Jahre später beschloss ich, in den Vorruhestand zu gehen, um noch mehr Zeit für das andere Leben zu haben, das sich neben meinem Berufsleben abspielte.
Ergebnis? November! geschrieben und veröffentlicht im Jahr 2018.
November ist die Erzählung dieses ersten Jahres im Ruhestand, in dem ich mich von der Welt zurückziehe, ohne mich jedoch von ihr abzuwenden; von der ich mich entferne, um sie zu beschreiben, um eine Existenz, eine Form, einen Sinn und eine Schönheit zu finden. Eine Welt, in der ich mich bewege, an die ich gebunden bin und von der ich abhänge, eine Welt, von der ich mich eines Tages lösen muss, die ich denen überlassen muss, die nach mir kommen: die Orbe-Ebene, seine Bewohner, das Seeland, seines Tiere, das Einzugsgebiet der Aare, ihre Vergangenheit, ihre Zukunft.
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Aber auch wenn sich November um die Region Seeland dreht, dreht diese Erzählung sich auch um den Tod eines Freundes. Und es ist die Erwartung dieses Todes, die die Macht hat, den Realitäten, die sich präsentieren, eine weniger sichere, zerbrechlichere und geheimnisvollere Existenzweise zu verleihen.
So sehr, dass mir bei mehreren Gelegenheiten die Zuckerrüben und Findlinge als voll von persönlichem Leben erschienen .
November ist also kein dokumentarisches Buch, das die Wahrheit über eine Region Sager würde, und auch kein Buch über Metaphysik, Philosophie oder Weisheit. Es ist vielmehr ein Buch, das es mir ermöglicht, die Welt, die mich umgibt, und die Menschen, die sie bewohnen, zu entdecken und entdecken zu lassen, ohne dabei zu dick aufzutragen, so dass dieses Buch keine Gewissheit gibt.
Dieses Abendteuer und dieses Buch haben mir (und vielleicht dem Leser) Möglichkeit gegeben, meinen Blick auf Dinge zu erneuern, die mir zu vertraut geworden waren, ihnen ein Leben zurückzugeben, selbst den trivialsten Dingen, und ihnen so eine Zukunft zu bieten.
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Über die Tätigkeit des Übersetzens, möchte auch ich zwei oder drei Wörter sagen.
Denn Schreiben in dem Sinne, wie ich es verstehe, ist bereits Übersetzen. Es bedeutet, die Empfindungen, die ich hatte, die Beobachtungen, die ich gemacht habe und die Ereignisse, an denen ich teilgenommen habe, mit Wörter und Sätze zum Ausdruck zu bringen. In diesem Sinne ist November eine Übersetzung.
Aber November ist nicht die Übersetzung einer zwölftägigen Reise durch das Seeland, Wort für Wort, Schritt für Schritt; November ist nicht das Aufschreiben von Notizen, die ich mir täglich gemacht hätte, oder die rückblickende Niederschrift dessen, woran ich mich erinnert hätte.
Denn dass es zwei Dinge gibt, zwei Arten des Seins, die so verschieden sind: das, was man erlebt hat, das Unmittelbare, und das, was man später darüber sagt, den Text, den man daraus macht. Und der Übergang vom einen zum anderen, seine Übersetzung, zwingt oft zu Umwegen, die den Schreibenden von dem, was er vor Augen hat, wegführen, ihn aber am Ende wieder dorthin zurückbringen.
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Ich möchte als Beispiel einen Moment erwähnen, den ich erlebt habe, und die Umwege, zu denen er mich gezwungen hat. (150-154).
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Es ist der 13. November 2017. Seit sechs Tagen bin ich unterwegs. Ich war am Morgen in Portalban und komme mittags in Salavaux, am Ende des Murtensees an. Ich bin etwas müde, sodass ich einige Minuten auf einer Brücke halte, von wo aus ich Folgendes beobachte:
Ich dachte nicht viel nach. Bis ich den Fluss erkenne. Läuft mir ein unmerklicher Schauer über den Rücken: Oh, die Broye hier? Wie wir uns wiedersehen! Wo bist du hingegangen?
Nichts mehr. Also ich drehe mich um und erblicke eine Baustelle:
Mammutarbeiten, die mich stutzig machen und von denen ich ein Foto mache.
Ich atme tief durch, stehe auf und, entlang des Murtensees, gehe weiter. Bis Sugiez.
Am Abend, auf der Terrasse der Pizzeria Bella Italia mache ich mir ein paar Notizen auf meinem iPad, denke an die Minuten auf der Brücke, notiere, wie glücklich ich war, als ich die Broye erkannte, und lege das Foto von der Baustelle beiseite.
Dann schaue ich auf einer Karte nach, suche die Broye und entdecke, dass die Petite Glâne in der Nähe der Brücke mündet; ich hatte sie nicht gesehen, aber ihre Anwesenheit regt meinen Appetit an. Ich esse und gehe zu Bett. Meine Reise wird noch sechs Tage dauern.
Beachten Sie, dass ich das Datum des Brückenbaus (1897) nicht notiert habe, einfach nur weil ich es nicht bemerkt habe. Dieses Datum, die Brücke und der Stahl hätten mich interessieren und meine Reise neu ausrichten können, und mehrere Aspekte dieses Buches verändern können. So war es nicht. Weder Brücken noch Stahl werden im November erwähnt.
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An alle diesen drei Punkten, Glück, Baustelle und Petite Glâne, werde ich in den nächsten Monaten, nach meiner Rückkehr, arbeiten.
Zunächst, werde ich versuchen, das Glück, das ich auf dieser Brücke empfunden habe, in Worte zu fassen. Um diesem Augenblick eine Form zu geben, werde ich zu den Quellen des Flusses zurückkehren, der an meinem Haus vorbeifließt, und seinem Lauf bis zur Broye folgen. Nach Lucens werde ich auch den Ort wiederfinden, an dem sich die Broye meiner Kenntnis entzieht und ihr Leben, ohne mich, lebt.
Zweitens, werde ich mich mit dieser riesigen Revitalisierungsbaustelle beschäftigen. Ich werde nach Salavaux zurückkehren, um mit den Arbeitern sprechen, mich für die Budgets interessieren, die Anwohner befragen und weitere Revitalisierungsgebiete ausfindig machen, die ich an anderer Stelle im Buch erwähnen werde.
Drittens, werde ich den Fluss Petite Glâne hinaufgehen, von der Brücke bis zur ehemaligen landwirtschaftlichen Siedlung Payerne. Dort werde ich im alten Obstgarten eine Birne marodieren. Ich werde auch über diese Kolonie lesen, über die Trockenlegung der Sümpfe und die ersten Rübenpflanzungen, die ich im vierten, fünften und neunten Kapitel des Buches erwähnen werde.
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Sie werden es verstanden haben: ich habe all dies und noch viel mehr gesammelt. Ich habe auch viel weggeworfen. Einige Sachen habe ich an anderer Stelle in der Erzählung neu verteilt. Bis zu dem Punkt, an dem jedes einzelne Kapitel und die Gesamtheit der Kapitel für mich stimmig waren. Als alles seinen Platz hatte.
Das bedeutet, dass dieser Bericht, der zwölf Tage dauert, in Wirklichkeit der Bericht einer Reise ist, die zwölf Monate dauerte. Zu Fuß, im Auto und im Zug. Er wurde durch Notizen, Lektüre, Fotografien, Begegnungen und Überlegungen genährt, die alle Umwege sind, um das wiederzugeben, was mir widerfahren ist, aber auch das, was ich entdeckt habe: das Einzugsgebiet der Aare, Rüben, Sümpfe, Zement, Gefängnisse, Stieglitze, Kalkstein…
Von den zwei oder drei Minuten auf der Broye-Brücke und den Umwegen, zu denen sie mich gezwungen haben, sind mir vier Seiten geblieben, mit Einige Echos in anderen Kapiteln des Buches. Diese vier Seiten geben am besten wieder, was ich erlebt habe und sagen am genauesten, was ich schliesslich sagen wollte. Es ist zu viel und zu wenig, aber ich konnte es nicht besser machen.